Schienenfriedhof Nordbahnhof

Wenn der Bewuchs noch niedrig ist, lässt sich am verbliebenen Gelände des ehemaligen Nordbahnhofs in Wien ein eigentümlicher Blick auf die erste Hälfte des vorigen Jahrhunderts werfen.  Da wird die Sicht auf die Walzzeichen der  Gleise frei. Eisenbahnschienen haben seit jeher ein Walzzeichen, das angibt in welchem Walzwerk sie in welchem Jahr hergestellt wurden.
Auf wenigen hundert Quadratmetern liegen hier rätselhafter Weise Schienen aus 60 Jahren und unzähligen Walzwerken in ganz Europa, dicht gedrängt und offensichtlich willkürlich zu Abstellgleisen aneinandergeschweißt. Auf den zweiten Blick ist die Ansammlung alles andere als zufällig. In der Monarchie und im Dritten Reich kommen die Gleise aus ganz Europa, in den anderen Jahren ausschließlich aus dem steirischen Donawitz. [
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Die älteste ausländische Schiene stammt aus 1911 und dem tschechischen Walzwerk Kladno. Es wird sich noch eine zweite Schiene aus Kladno finden, die ist aus dem Jahr 1940. Da sind die Tschechen schon wieder unfreiwilliger Teil eines großen Reiches. Hier am Schienenkalender des Nordbahnhofs hat das eine Spur hinterlassen.

Salomon Rothschild war der Finanzier der Kaiser-Ferdinands Nordbahn. Er war auch Besitzer der Witkowitzer Stahlwerke in Tschechien, die wiederum durch die Nordbahn erschlossen wurden. Eine einzige abgenutzte Schiene mit dem unscheinbaren Walzzeichen WIT (19)15 ist ein letzter Verweis auf diesen großen Zusammenhang. Wie viele werden es einst gewesen sein?
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Kann man das Gleis "Donawitz 1914" betrachten, ohne an den Ausbruch des ersten Weltkriegs erinnert zu werden? Oder  "Donawitz 1934" ohne an den Bürgerkrieg zu denken?

Direkt neben der Schiene "Donawitz 1938" liegt eine von Thyssen aus 1939. Jetzt geht es wieder los mit Gleisen aus Aller Herren Länder. Die Schiene mit der Aufschrift "Königshütte 1941" kommt aus dem polnischen Kattowitz. Bis zum deutschen Überfall war die Stahlprägung dort „Huta Krol“. Sogar die Walzzeichen wurden sofort eingedeutscht. "Burbach 1943" ist eine Schiene aus dem Saarland, die Aufschrift "MH 1943" verweist auf die Maxhütte in der Oberpfalz. Aber bald ist das Tausendjährige Reich endlich am Ende, dann wird es weitergehen mit Schienen aus Donawitz, bis herauf ins wilde Jahr 1968. [weiter]





Im Sommer 2020 ist das Gelände des Nordbahnhofs weitgehend neuen Straßen, Wohngebäuden, Geschäftsräumen und Schulen gewichen. Ein neuer Stadtteil entsteht. Der "Schienenfriedhof" liegt großteils in jenem Bereich, der mit der Bezeichnung "Freie Mitte" als naturnaher Grünraum vorgesehen ist. Das hat die Gleise einstweilen vor dem Alteisenmarkt bewahrt.

Inhaltsverzeichnis:

[Schienenfriedhof Nordbahnhof]

[Bewahrung der Walzzeichen]

[Gedenkort Nordbahnhof]

[Quellen und Links]








Im Frühjahr 2019 habe ich die Schienen mit den historischen Walzzeichen entdeckt. Auf Facebook haben sich viele Menschen  vom symbolhaltigen Zauber dieses Industriefriedhofs und Schienenarchivs ansprechen lassen. In einem Baufeld, das damals kurzfristig für die Gleisschliefe der neuen Straßenbahn frei gemacht werden musste, waren einige der einzigartigen Gleise gefährdet. Mit Unterstützung von Hans-Christian Heintschel von den Bahnarealen Wien war es möglich, die ÖBB zu überzeugen, die dort liegenden Walzzeichen sicherzustellen. Ich habe die Schienen  im freizumachenden Gebiet mit weißer Farbe markiert und die ÖBB haben die Teile bei der Baufeldräumung ausgeschnitten und eingelagert.

Jetzt geht es darum, dass auch die restlichen Walzzeichen gesichert werden. Vielleicht lassen sie sich ja in ein stimmiges Erinnerungszeichen an den Nordbahnhof und die vielen Aspekte seiner Geschichte integrieren?




Die vielen spontanen Reaktionen auf die Entdeckung der Gleise mit den Walzzeichen, zeigen die Faszination, die von Objekten ausgeht, die Lebensräumen Geschichte  geben. 



Nach einer Podiumsdiskussion  zur Geschichte des Nordbahnhof-Geländes am 27. Juni 2019. Gerhard Stanz; Michael Zinganel, Tracing Spaces; Bezirksvorsteherin Ulrike Lichtenegger; Franz Haas, Bahnhistoriker; H. C. Heintschel, Bahnareale Wien; Sándor Békési, Wien-Museum; Michael Hieslmair, Tracing Spaces. (C) Stadt Wien




Vor der Räumung eines Baufeldes habe ich die wesentlichen Walzzeichen für die ÖBB markiert.



Schienen mit Walzzeichen aus einem bereits geräumten Baufeld in einem Depot der ÖBB 2019. (C) ÖBB





Gedenkort Nordbahnhof

Der Nordbahnhof war das Tor Wiens in den weiten Osten der Habsburger Monarchie. Das Hauptmotiv, die Nordbahn zu errichten, war der Transport von Wirtschaftsgütern. Die Metropole der Monarchie brauchte Lebensadern, die sie mit Kohle, Stahl, Salz und anderen Rohstoffen versorgte. Nicht weniger wichtig jedoch waren die Menschen die kamen und innerhalb weniger Jahrzehnte die Vielfalt und Kreativität des geistigen Lebens im Wien der Jahrhundertwende und Zwischenkriegszeit prägen sollten. Viele von denen, die von der Sicherheit und Prosperität der Habsburger-Metropole angezogen wurden, waren Juden.
In beiden Weltkriegen war der Nordbahnhof ein wichtiger Umschlagplatz für die Bedarfe des Krieges. Umgeschlagen wurden Truppen, Bomben und Granaten in den Osten und Verwundete auf dem Rückweg.
In die Güterverkehre des Krieges integrierten die Nazis bald auch die Logistik ihres großen Menschheitsverbrechens, der Deporationen der  jüdischen Bevölkerung zur Ermordung im Osten. Ausgangsort der Wiener Deportationszüge war in erster Linie der Aspangbahnhof, doch die Route aus der Stadt führte häufig (wenn nicht immer) über den Nordbahnhof. In der Schlußphase der Deportationen wurde der Nordbahnhof für ca. 2000 Frauen, Männer und Kinder selbst zum Ausgangsbahnhof der Fahrt in die Vernichtungslager. [weiter]





Wehrmachtszug am Nordbahnhofgelände. (C) Gerhard Stanz - zeitfenster.at


Als am 27. Juni 2019 eine Podiumsdiskussion zur Geschichte des Nordbahnhofs stattfand, wollte es der Zufall dass es auch der 75. Jahrestag einer Deportation vom Nordbahnhof war. Obwohl der Zufall eigentlich nicht besonders groß sein musste, denn es gibt viele Tage im Jahr, an denen man in Wien einer Deportation gedenken könnte.
Die Deportation 47G vom 27. Juni 1944 nach Auschwitz war eine typische "Endphasendeportation". Während im "Normalbetrieb" ca. 1000 Menschen einen vollständigen Zug füllten, waren 1944 nur noch jene Menschen abzutransportieren, die sich bei letzten Durchsiebungen finden ließen. Am 27. Juni waren dies 17 Personen zwischen 13 und 68 Jahren, deren Geschick oder Glück im Wien des Dritten Reiches am Leben zu bleiben, sie an diesem Tag verlassen zu haben schien.
Beispielsweise Olga und Karl Chybik mit ihrer 13jährigen Tochter Ilse, oder der 15jährige Ignaz Preis mit seiner (vermutlichen) Schwester Anna aus Neunkirchen (NÖ), offensichtlich ohne erwachsene Begleitung. Verwendet man die wenigen biographischen Informationen, die sich in den Datenbanken des Dokumentationsarchivs und von Yad Vashem finden, um im Internet weiter auf Spurensuche zu gehen, so findet man schnell weitere Bezüge. Zum Beispiel zur jüdischen Gemeinde von Neunkirchen. Aus den Daten nehmen die Opfer wieder menschliche Konturen an, und Platz ein, in unseren Vorstellungen.
Das Internet ist ein Gedenkort geworden.
Aber es braucht auch Anker in der Welt.
Am Nordbahnhofgelände in Wien sollte ein solcher stehen.




Transportliste der Deportation 47G vom Wiener Nordbahnhof. (C) DÖW

Quellen und Links

Bahnhof und Walzzeichen
Wikipedia Nordbahnhof
Wikipedia Kaiser Ferdinands-Nordbahn
Wikipedia Walzzeichen
Wikimedia Walzzeichen Nordbahnhof
Franz Haas: Der Wiener Nordbahnhof, Bahnmedien 2018

Erinnern und Gedenken
Bloodmountain.org
Michaela Raggam-Blesch, Dieter J. Hecht: Deportations from Nordbahnhof 1943-1945 (PDF) 2019
Der Standard, 7.5.2020: Deportationen vom Wiener Nordbahnhof
Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes
Yad Vashem


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[Quellen und Links]



Gerhard Stanz, im Sommer 2020
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